Guckt in die Röhre! NZZ am Sonntag, 12/22

1 Liebeserklärung ans Fernsehen und 14 Serientipps

Im Wohnzimmer kein schwarzes Rechteck stehen zu haben sagt heute einzig etwas über Interior Design Entscheide aus und nicht darüber, wie viel Bewegtbild jemand konsumiert. Drum bitte schweige, wem gerade die Mundwinkel vorfreudig zucken, weil er den Drang verspürt, kundzutun, dass man schon seit anno elf keinen Fernseher mehr besitze. Kein Internet — das wäre mal Avantgarde. Aber bis dahin sind wir erstmal immer noch alle gleich. Fernsehen macht übrigens auch nicht dumm, sondern sehr glücklich, wenn man weiss, was gucken. Serien sind mein Schnellzug an einen Ort, wo ich mithilfe von mir aus dem Nichts urplötzlich ins Herz geschleuster Charaktere Gefühle fühle und Gedanken denke, auf die ich ohne meine neuen temporären Weggefährten nicht gekommen wäre.

Bis letzten Montag lebte ich noch auf Sizilien, ein bisschen verliebt in die Escorts Lucia und Mia, die – wie ich – gar nicht eingeladen waren in dieses feine Luxus Resort, wo wir weilten und die Gäste sezierten. Ich litt mit einem jungen amerikanischen Mann, so sehr Feminist, dass er seine Angebetete damit (oder doch nur mit der hinten bitz längeren Frisur?) in die Arme eines traurigen Fuckboys trieb. Ich bangte um das Leben vieler Hotelgäste, im Wissen, dass am Ende des Aufenthalts einige tot am Strand angespült würden und hing derweil an Jennifer Coolidges Lippen, die ganz allein in der Lage sind, so komplexe Gefühlsabläufe zu schauspielern wie denjenigen, wie man sich ganz sicher nicht von einem plumpen Kompliment einlullen und umstimmen lassen möchte und es trotz innerer Gegenwehr doch tut. Coolidges Figur allein würde schon als Argument für The White Lotus sprechen. Aber ich sass jauchzend vor dem Fernseher ob all dieser zwischenmenschlichen Situationen, die in dieser Gesellschaftssatire tatsächlich jemand schaffte alle einzufangen. Nun hoffe ich auf eine dritte Staffel, obwohl eigentlich keine nötig ist, weil es besser nicht werden kann.

Es gibt Geschichten, über die schon viel berichtet wurde. Und doch würde es mich nervös machen, wenn jemand Fleabag(der Fuchs! der Priester!), Babylon Berlin (wie lang kann man bitte auf Küsse warten? The Beauty of Peter Kurth),Big Little Lies (die Kidman!),Euphoria (diese Ästhetik!) oder Succession (schmerzhafteste Darstellung eines vierzigsten Geburtstages ever) nicht gesehen hätte. Drum, falls Sie bei allen Klammerbemerkungen nicht wissen, warum in aller Welt an einem Sonntag so viele Ausrufezeichen nötig sein sollten:consider it a life enriching homework.

Optisch erfrischendes Gegenteil von White Lotus, Euphoria und Big Little Lies, wo alle Menschen aussehen, wie die meisten Menschen eben nicht aussehen, sind Somebody Somewhere und Happy Valley. Die britische Dramaserie ist nichts für schwache Nerven; allein schon die Storyline zu lesen, ist manchen zu hart: Eine junge Mutter verübt Suizid und hinterlässt einen aus einer Vergewaltigung entstandenen Sohn. Die Grossmutter des Jungen und deren Schwester ziehen das Kind fortan zusammen gross. Die Polizistin nimmt sich vor, den Mann, der ihr die Tochter und ihrem Enkel die Mutter genommen hat, ins Gefängnis zu bringen. Nicht minder fesselnd und mit vier Emmys ausgezeichnet ist Mare of Easttown: Wieder eine Ermittlerin, wie man sie gern im eigenen Leben hätte, die sich durch Kleinstadt und Vergangenheit kämpft, um einen brutalen Mord aufzuklären (Mare ist der Spitzname für die von Kate Winslet porträtierte Frau. Mehr Empfehlung ist also nicht nötig, höchstens ein Reminder, da in der Fülle von Serien auch sehr gute übersehen werden können).

Ganz ohne Action kommt der rote Faden von Somebody Somewhere aus. Hier kehrt Sam, irgendeine Frau in ihren frühen Vierzigern nach dem Tod ihrer Schwester zurück in ihr Heimatdorf irgendwo in Kansas, wo sie nicht mehr hinpasst, aber für den Moment bleibt (die Mutter säuft, der Vater kommt alleine nicht klar, die noch lebende Schwester hat keine Zeit). An einem Abend in einer Bowlingbar wird Sam kurzerhand ein Typ gegenübergesetzt zwecks Verkuppelei. Die beiden trinken Bier, er schaut auf ihre enormen Brüste und stellt fest: You have nice boobs. Und anders, als man erwarten würde, wehrt sie das Kompliment nicht ab. Sie gibt auch keins retour, sondern erwidert nur:Yeah, and do you like soft skin? Schnitt. Und die beiden wachen zusammen auf. Das ist schön. So gut und echt – und einfach nur irgendein One Night Stand ohne Folgen.

Wie Bridget Everett in ihrer macht es Bill Hader in seiner Serie Barry und ist gleichermassen Autor und Hauptfigur. Die Geschichte ist abstrus: Der ehemalige Soldat Barry arbeitet als Auftragsmörder und gelangt beruflich an eine Schauspielschule in Los Angeles. Vom Sofa aus schauen wir einem traumatisierten und meist schlecht gelaunten Mann dabei zu, wie er zwischen Morden und dem Alltag als Schauspielanfänger pendelt. Kurz bevor man «näch, so doof» denken will, passiert plötzlich etwas so enorm Brutales oder unerwartet Berührendes, dass man sich schämt, an der düsteren Komik der Serie gezweifelt zu haben. Weil, natürlich: Wir sind nicht einfach alles Architektinnen und Grafikdesigner im Schweizer Arbeitsmarkt. Manche von uns sind tatsächlich Auftragsmörder – oder zu Unrecht verurteilte Mörder wie in der romanhaften Serie Rectify, die ungewohnt behutsam die Geschichte von Daniel Holden erzählt, der nach fast 20 Jahren in der Todeszelle freikommt und mit seiner Re-Integration hadert. Auch diese Menschen verlieben sich, müssen tanken oder zum Friseur. So auch Jeff Bridges in The Old Man, von dem man versehentlich meint, er sei ausschlaggebend für den Titel, was er kurz nach Beginn mit ganzen Körpereinsatz so intensiv widerlegt, dass einem fast der Tee aus der Hand kippt.

Nur weil wir diese Leben nicht selbst leben, heisst es nicht, dass es sie nicht gibt und sie es nicht wert wären, erzählt zu werden. Ganz im Gegenteil: Sie sind unsere Möglichkeit, mehr zu erleben als das, was wir sind, auch wenn es bedeutet, dass wir plötzlich an einem Sonntagabend in Jersey City mit der unausweichlichen Tragik konfrontiert werden, einen versehentlichen Mord an einem Teenager vertuschen zu müssen wie die Polizisten in Seven Seconds oder, unweit davon entfernt (aber um einiges leichtfüssiger) versuchen, als muslimischer Millenial nach Identität und Liebe zu suchen wie Ramy Youssef in seiner nach ihm benannten, ausgezeichneten Serie Ramy.

Man mag dieser Fernsehgafferei wenig Besinnliches abgewinnen. Mir hilft sie dabei, die Menschheit zu lieben. Wenn ich mich frage, ob wir wirklich nicht imstande sind aus unseren Fehlern zu lernen, denke ich mit warmem Herzen daran, dass irgendwo Menschen sind, die all diese Serien schreiben; die sich Geschichten ausdenken, sie filmisch so umsetzen und musikalisch unterlegen, dass einem der Atem stocken und das Herz fast stehen bleibt. Was für ein Geschenk (Und ja, natürlich: Bücher können das alles auch. Aber da bleibt wegen Unfreiheit der Hände die Wäsche liegen, das Gegenüber auf dem Sofa ohne Umarmung und die Päckli unverpackt. Und come on. Es ist Dezember. Wer jetzt nicht noch nebenher zwei Hände braucht, um was zu erledigen, hat sich im Monat vertan).

PS: Wenn Sie nicht nur keinen Fernseher, sondern auch keine Zeit für eine ganze Serie (mimimi) haben: Athena ist ein fantastischer neuer Film.