Handbuch zum Schweizer Publikum Kulturtipp, 12/2021

Verstehen Sie mich, respektive meinen Nachnamen, nicht falsch. Ich bin das Schweizer Publikum, zumindest das vom geriatrischen Millenial an aufwärts, das alle vor 1989 Geborenen miteinschliesst. Das wird hier also kein Diss, sondern eher ein Selbstbeschrieb in Form eines Briefes. Diesen biete ich Veranstaltenden gern zum Ausdruck an, um ihn Künstler:innen vor deren Auftritt in der Schweiz neben die Toblerone und das Fleischkäsesandwich in den Backstagebereich zu legen. Ich bin überzeugt, wenn Bon Jovi, Leona Lewis oder Bryan Adams unser Wesen besser verstünden, könnten sie uns mindestens so lieben, wie wir sie. Denn, was ist schöner als Liebe, die auf Gegenseitigkeit beruht?

Grüezi (name of artist, hier jetzt) Herr Jovi

Vorab ein Geheimnis: Nichts verleiht dem Schweizer mehr Swag, als wenn er in Skischuhen geht. Er tut dann so, als würde seine Gangart ihm selbst gar nicht auffallen, aber er geniesst das erhabene Gefühl, in einer ihm sonst verwehrten, rhythmischen Art (ki-going-dsch, ki-going-dsch) locker und gleichsam bestimmt über den Schnee zu gehen, als wäre dieser eine Tanzfläche, die zu bezwingen ihm in keiner anderen als dieser Weise genauso gut beschieden wäre. Ohne Skischuhe an den Füssen fehlt es Ihrem Publikum also an einer Nonchalance, wie Sie es sich vielleicht anderswo von Menschen an Ihren Konzerten gewöhnt sind.

«Ganz wär z’fescht und nöd wär unaständig.» Wegen dieses Glaubenssatzes sind wir zu unserem eigenen Bedauern dazu verdammt, im Umgang mit anderen und besonders als Konzertbesuchende als desinteressiert oder gar schon tot empfunden zu werden. Dies geschieht jedoch mehr aus einem unbeholfenen Anstand denn aus böser Absicht. Dazu ein Beispiel: Wenn im Restaurant eine Bekannte an unserem Tisch vorbeigeht, stehen wir nicht auf und gehen auf sie zu, sondern heben nur halb den Hintern vom Stuhl, die Beine verharren in einem unentschlossenen 120 Grad Winkel. Bedeutet: Wir möchten uns nicht aufdrängen, die Person war ja auf dem Weg woandershin. Aber wir möchten auch unser Interesse bekunden und scheuen keine Mühe, dies zu zeigen. Also behalten wir diese kropfige Stellung (vgl. Chair Pose) bei und führen Small Talk — und warten, bis die Situation vorbei ist. So manifestiert sich unsere vermeintliche Halbherzigkeit auch in einer gewissen Steife des Körpers.

An Konzerten deuten wir unsere Moves nur an — ausser Regu und Mike, die Sie vorne rechts während Livin’ on a Prayer vielleicht einen frechen Foxtrott tanzen sehen. Sonst sind unsere Zwischenrufe leise, der Applaus zögerlich. Ihre Lieder können wir selbstverständlich auswendig, aber wir singen nicht mit, ausser Sie sagen, wir sollen. Am besten funktionieren wir nämlich, wenn wir eine Anleitung bekommen (Foxtrott ist ja auch nichts anderes): now clap your hands, put the Handytaschenlampe on, etc. Mitten im Lied klatschen wir sicher nicht, egal wie begeistert wir sind. Wir klatschen, wenn es zu Ende ist. Dass wir ein Ticket gekauft haben, bedeutet schon, dass wir Sie gut finden. Wir können hier jetzt nicht auch noch komplett ausrasten. Bitte beachten Sie: Wenn wir für Sitzplätze bezahlt haben, möchten wir nicht schon bei den ersten Songs aufstehen. Erstens wissen wir dann nicht, wann der anständigste Moment wäre, sich wieder hinzusetzen. Und das Stehen möchten wir fürs Ende aufbewahren. Wenn wir bei der Standing Ovation schon stünden, müssten wir ja als Steigerung auf die Sitzfläche stehen (das ist hier verboten). Up-tempo-Nummern und Hits also nicht gleich zu Beginn spielen.

Dies soll um Himmels Willen nicht heissen, dass Sie mit Ihren Hits geizen sollen. Ihr Publikum besteht zu einem Grossteil aus demselben Mann. Es gibt in der ganzen Schweiz nur 19 gemeldete heterosexuelle Frauen, die diesen Mann noch nicht mindestens einmal in ihrem Leben zum Freund hatten: Er, der seiner Liebsten mit geschlossenen Augen, grosser Inbrunst und unsichtbaren Sticks das In The Air Tonight Schlagzeugsolo Ihres werten Kollegen Phil Collins demonstriert. Und zwar je-des Mal, wenn das Lied im Radio oder zwischen den Regalen im Jumbo läuft. Dies tut besagter Mann in der aufgeregten Überzeugung, er allein sei der Schlüssel — «musch lose, etz chunts dänn!» — zu diesem Drum Fill, zu dem die Frau ohne die Beihilfe dieses nischenkundigen Herrn nie Zugang bekommen hätte. Dieser Mann wird in vielfacher Ausgabe auch an Ihrem Konzert sein, deshalb, bitte, geben Sie ihm, worauf er wartet: Ihre grössten Hits. Wir schätzen die Tatsache, dass Sie Neues schaffen und sich nicht auf Ihren Lorbeeren ausruhen, hören wollen wir aber vor allem diese. Für Neues brauchen wir immer etwas mehr Zeit.

Apropos Zeit: Ihr gilt unsere feurigste Leidenschaft. Es liegt also in Ihrem eigenen Interesse, dass Sie pünktlich beginnen und, ebenso wichtig, bitte auch wieder aufhören (viele von uns sind mit dem ÖV hier und später als um 23 Uhr möchten wir unter der Woche einfach nicht undere). Aus demselben Grund fordern wir sicher nicht mehrere Zugaben. Bei Ihnen wäre es ja jetzt noch später als bei uns schon, da möchten Sie sich bestimmt auch gelegentlich Ihre Burgersteinvitamine einwerfen und ins Bett. Sollten Sie aus unerfindlichen Gründen (für uns zählen ausnahmslos alle dazu) Verspätung haben, erzählen Sie, dass Sie bereits einmal hier waren (und alles so sauber war), dass Sie auch Roger Federer Fan sind oder eine Grosstante in «Kusnackt» haben. Das sollte die Wogen glätten. Sie schaffen das. Und auch wenn Sie es nicht sehen: Wir lieben Sie! Bitte kommen Sie immer wieder.

In innerlich unbändiger Vorfreude,
Ihr Publikum