Hey Honey Any Working Mom, 12/22

POV: Gedanken auf der Yogamatte

Wahllos trinke ich Cola Zeros und Kaffees in allen Temperatur- und Milchvariationen, während ich es kein einziges Mal schaffe aufzustehen, ohne zu seufzen. Seit dem Morgen weiche ich meinem Spiegelbild aus. Zeigt sich mein Gesicht aus Versehen im Backofen, weil ich nochmals ein Getränk hole, obwohl sich meine Organe beim Gehen anfühlen, als lägen sie alle auf einem morschen Boot auf körperinternen Wogen, sehe ich eine angeschissen ernste Frau, die ein blasslila T-Shirt mit Rundhalsauschnitt trägt, als wäre morgen ihr 75ter Geburtstag.

Ich könnte jetzt weinen, einen Orgasmus haben, aber auch eine Hose mit Gummibund anziehen und was Lustiges schauen; alles würde ich mit demselben stoischen Gesichtsausdruck tun (der, bei dem mein Mann Oh, Bebe sagt, wenn er heimkommt und mir einen Kuss auf die Stirn gibt und ich denke: Das ist schön. Bis er fragt, wo ich den Kellerschlüssel hingelegt habe und ich denke WOHER SOLL ICH DAS WISSEN, WIESO SOLL ICH ÜBERHAUPT IMMER ALLES WISSEN ÜBER DEN VERBLEIB IRGENWELCHER DINGE, WIESO WARST ES VIELLEICHT NICHT EINFACH DU, DER DEN VERSCHISSENEN KELLERSCHLÜSSEL EINFACH IRGENDWOHIN GELEGT HAT? Derweil ich noch immer aus meinem Rundhals schaue wie vorhin, beim optionalen Orgasmus, den ich nicht hatte. Natürlich war er es nicht. Weil das mit den Schlüsseln bin immer ich. Und jetzt noch mehr. Umringt von ein paar trockenen Krümeln liegt er auf dem Boden meiner Tasche. Hier, gern geschehen).

Zyklustag 3. Zu früh habe ich mich über seine mögliche Abwesenheitserklärung gefreut. Ich bin müde, ich blute, ich hasse mich und alle. Meine Haare sind scheisse, und mein Körper ufert gedellt und schwammig in alle Richtungen aus, einzig in Zaum gehalten von meinen neuen Leggins von Hey Honey Yoga. Aufmunterndes Geschenk oder subtile Aufforderung, mich mehr zu bewegen – niemer weiss es. Ich denke den ganzen Tag ans nicht essen und wie ich mich ohne Energie jemals in diesem Leben werde aufraffen können:

  • weniger zu essen
  • Sport und
  • ein glückliches Gesicht

zu machen.

Mit all meiner Kraft überwinde ich mich nach anderthalb Stunden des Abwägens, ins Yoga zu gehen. FICKT EUCH ALLE, denke ich schon beim Betreten des Raumes und bei jedem Satz, der die Stille unterbricht. Wir sitzen ruhig da und kommen jetzt an im Raum. Heute also Fokus Hals Chakra. Nun gut. Seine Farbe sei blau, etwas zwischen hell- und dunkelblau. WAS SOLL DAS BITTE SEIN? Indigo, Petrol, Kupfersulfatblau, es gibt sicher zwanzig Blaus. Nimm halt das nächstbeste, aber bitte, SAG DAS RICHTIGE ODER GAR KEINS, just do your fucking Job!

Bleib mit den Gedanken auf deiner Matte.

Wo sonst.

Während du dich nach vorne beugst und dein Knie sanft von dir wegdrückst, hör nur auf deinen Atem. Sei nicht streng zu dir.

Bin ich nicht, ich öffne jetzt meine Hüfte.

Jaa, da sind die Gefühle! ruft Jochen, der Lehrer, der so viel lieber einen indischen Namen hätte – oder dann vielleicht wenigstens was Cooles wie Josh – aber sein Schicksal akzeptiert, weil er sie vorleben will, ganz wie er es in der Ausbildung gelernt hat, die grosse Akzeptanz von allem.

Ich krampfe im Brett vor mich hin und gucke zu meinem Bauch, der trotz zitternder Ganzkörperspannung weich zur Matte zeigt. Ich schwöre, du willst meine Gefühle nicht, Jochen.

Jetzt machen wir etwas sehr Lustiges.

You don’t say.

Wir bleiben in der Plank Position und heben das linke Bein über das rechte und setzen den linken Fuss neben dem rechten wieder ab. Alles klar?

Ja. Mega lustig.

Jetzt ist der linke Fuss rechts vom Körper, wenn wir über unsere rechte Schulter schauen.

Wahnsinn.

Hey, ihr dürft ruhig lachen! Das ist lustig!

Gut, dass er das Geräusch vormacht, falls es noch anderen ausser mir nicht einfallen könnte, wie man jetzt lachen könnte. Einige lachen folgsam mit Ton und ich schaue genau, wer es ist, damit ich sie auf dem Heimweg mit meinem schweren Mami Ebike überfahren kann.

Wie lange kann eine Stunde dauern? Das Atmen der anderen – es sägt an meinen Nerven. Jetzt noch die Übung, wo man sein Bein so halten und wiegen darf wie sein Baby. Ich will nicht, aber es ist leider schön. So ist es immer mit diesen Dingen. Was mich am meisten aufregt, ist der Ort, wo ich eigentlich hinmüsste. Einklang. Gemüse. Whatever. Ich weiss es und will es gleichzeitig nicht wissen. Das ist die eigentliche Dehnung. Wie sehr ich den ersten Barista mit einem wow no cow Shirt schlagen wollte. Wie ich sie vom Gstell fallen lassen möchte, die alkoholfreien Prosecco-Flaschen: freeing the spirit of spirits, my ass. Wie sich mir alles zusammenzieht, wenn mir jemand vorschlägt, als Dessert mal eine Wassermelone zu versuchen. WENN ES NICHT DICK MACHT, IST ES KEIN DESSERT! In den Schmerz hineinatmen. Ins Vertrauen gehen. Ich will kein Vertrauen, ich will Gift. Und einen Latte Macchiato mit grossem Guetsli auf dem Löffel nebendran.

Diese beschissene Sanftheit triggert mich derart, dass mein Kopf glüht. Das Leben ist doch nicht sanft. Uns reissen Dämme, uns platzen Zysten und Fruchtblasen, während zwei Kinder auf dem Spielplatz auf uns warten, stehen wir am Rand und wissen, dass wir heute noch fehlgebären und hoffen, dass wir genug Schmerzmedis und Taschentücher dabeihaben, falls es auf dem Toitoi vom Spielplatz passiert. Uns brechen Näbel und Herzen, drum JA, JOCHEN. ES IST OKAY, WENN DU GLEICH AUF DEN GONG SCHLÄGST. WIR ERSCHRECKEN NICHT ZU TODE. UND JA, WIR TRAUEN UNS, BEI DIESER ÜBUNG DEN KOPF EINFACH MAL SO BAUMELN ZU LASSEN!

Ich wiege jetzt aber erstmal noch das, was aussieht wie mein Fuss. Wär‘ ich doch besser einfach daheim geblieben und hätte das eine Stunde lang gemacht statt hier mit diesen fremden Leuten auf Matten zu sitzen. Hin und her. Gleich heul‘ ich. Was ist das jetzt wieder? Will ich jetzt nochmals ein Baby? Nei bitte. Jetzt hab ich mir doch eben erst die Curettage gegeben, das wär jetzt ein ungünstiger Wunsch. Aber nein. Das ist es nicht. Ich wiege und wiege.

Ich betrauere nicht die Ungeborenheit eines weiteren Kindes. Ich betrauere die verdammte körperliche Anstrengung, die es ist, eine Frau zu sein. Ich möchte nachhause und meinem Mann offerieren, mit anderen zu schlafen, damit ich aus der Verantwortung steigen könnte, noch irgendwie aussehen zu müssen unter meiner Kleidung. Noch irgendwer zu sein. N i e m a n d – das wäre meine Wunschkandidatin.

Ich möchte allein sein. Allein wohnen. Allein leben. Allein sterben. Aber ich habe dafür das völlig falsche Konzept gewählt. Ich habe es nicht nur gewählt, ich habe es mir gewünscht, es galoppierend verfolgt und dann richtiggehend aus mir herausgeboren im grössten nur denkbaren Schmerz. Und jetzt wartet es daheim, bis ich zurückkomme und weiterfunktioniere und Gschichtli vorlese und ich liebe es so sehr und kann es nie mehr allein lassen. Und der Preis dafür ist mein eigenes Alleinsein. Bis einer stirbt, wird da niemals mehr einfach nur nichts sein, das mir die Freiheit gäbe, mich dafür – für das Nichts – zu entscheiden.

Super. Endlich Shavasana. Nur dafür mach ich den Scheiss. Dass ich einfach mal drei Minuten in Ruhe am Boden liegen kann und niemand sagt etwas. Und die anderen sollen bloss auf Jochen hören und ihre Augen geschlossen halten, dann kann ich hier noch fertig weinen.