Narziss in Spreitenbach Apple Notes 08/22

Ein Mittagessen mit mir selbst

Männer, die essen, als wären sie unbeobachtet. Mit einem Esslöffel pantschen sie sich den Kartoffelstock in die ihnen genehme Form und drücken nach Fertigstellung des Ovals mit Relief freudig die Löffelunterseite in ihr gebaggertes Werk, wo sie dann fein säuberlich ihre Kötbullers reindrapieren, bevor sie alles wegmampfen, bis nur noch zwei drei Kartoffelstampfschlirggen in ihren Bärten kleben, wo sie je nach aktuellem Beziehungsstand

  • eintrocknen (single) oder
  • ignoriert (relativ frisch zusammen)
  • per vorwurfswollen Blick zur Entfernung gebracht (verheiratet) oder
  • nicht mal mehr bemerkt (bald wieder single)

werden.

Ein Papi mimt schielend und mit fliegenden Lippen viel, wirklich viel zu engagiert, mit dem Löffel ein Erbsenflugzeug für sein Kind, das barfuss in einem Essstuhl sitzt, als wäre es hier daheim. Ich hoffe für ihn, dass er in all den Leuten dieses schlimme Gesicht wiederholt, aber statt wegzuschauen gaffe ich rüber und warte auf den zweiten Anflug. Ich weiss nicht, ob ich nur denke, dass ich den Kopf schüttle oder ob ich ihn tatsächlich schüttle.

Die Frau mir gegenüber ist geschminkt, als wäre es 1985 und sie die Head Stewardess eines transatlantischen Fluges. Ihre Freundin holt ihr noch ein Getränk und sie schaut währenddessen aus dem Fenster auf die blaue Wellblechwand gegenüber und bekreuzigt sich, bevor sie die Gabel in ihren Püreehaufen schiebt, bis zu seinem schieren Ende darauf bedacht, dass das kleine Fähnchen aufrecht darin stehen bleibt. Wieder ein anderer betet seiner Begleitung mit gerunzelter Stirn die Masse eines Leintuchs im Vergleich zu den Massen ihres gemeinsamen Betts runter, als wäre es Mantra und Denksportaufgabe gleichzeitig. Sie scheint an der Lösung nicht wahnsinnig interessiert und scrollt Teile von sich weg von ihm. Vielleicht ist die Fingerspitze schon taub. Oh, und die da links kenn ich sogar. Der Sohn war ein paar Tage im selben Chindsgi wie eins unserer Kinder, aber wurde dann recht bald schon versetzt. Vilich chli vill Mayo für so wenig Pommes? Ihr gegenüber setzt sich eine blasse Frau mit Maske dazu. Nach zehn Minuten finden sie einen Gesprächsanfang, der bald wieder endet. Ihre säuerlichen Mundpartien trennt nur eine Generation, ansonsten sind sie identisch. Ein Pärchen unterhält sich eifrig. Sie brauchen alle vier Hände zum Sprechen. Er sitzt ganz vorne auf dem Stuhl und sogar von hinten sieht man, wie gute Laune sie ihm macht. Jetzt machen sie beide Schnäuze mit ihren Zeigfingern.

Ich sitze am hohen Tisch und sehe auf die sich anbahnenden Glatzen der vielen jungen Väter herab, die hier im Kampf mit Nuuschis und Sirup noch irgendeine Schlacht zu gewinnen versuchen. Leute ziehen die Nase hoch und suchen mit den Fingernägeln nach dem Dill in ihren Zähnen. Schauen auf den Handys, was es war, was sie noch wollten. Nicht gross genug ist der Wunsch, als dass man ihn sich ohne Erinnerung hätte merken können. Aber brauchen, brauchen tun sie Dings natürlich trotzdem. Und wie ich hier sitze. Narziss in Spreitenbach. Über die andern urteilend, die essen, was ich auch esse, tun, was ich auch tue, sind, wo ich auch bin und vermutlich denken, was ich denke. Einfach nicht über sich, sondern über mich. Ich spicke mir jetzt noch den sechzehnten Marabou-Daim-Taler in den Rachen und verlasse mit meinem 9x8 neuen Kleiderbügeln (die als Bumerang beschriftet waren) diesen unheilvollen Ort.